Der Winter hat Wien erwischt und er wird ein Grausamer sein. Kälte und Dunkelheit verwandeln dieses ohnehin düstere Tal in einen Ort des Schreckens. Auf den Straßen begegnet mir mehr Aggressionspotenzial denn je, in den Lokalen sind die Gesichter kalt und freudlos und die Kopfgeldtafeln häufen sich täglich.

Ein weiteres Mal wird mir bewusst, wieso ich diese Stadt verlassen habe. Wieso so viele Kollegen sie vor mir verlassen haben.

„Ober“, höre ich mich rufen, „ein Whisky bitte.“

In Wahrheit habe ich diese Welt doch schon lange verlassen. Seit dem Verlust meiner Unschuld schwebe ich irgendwo im Äther, auf der Suche nach Licht, Liebe und Hoffnung.

Oh, welch Joch ihr tragen müsst, ihr gemarterten Künstlerseelen! Ihr missverstandenen Weltenveränderer, ihr verkannten Genies! Auf der Suche nach Wahrheit begegnet ihr nur toten Wanderratten oder Hofschranzen mit zerschlissenen Halskrausen. Euch bleibt die Erbse im Halse stecken.

Uns bleibt die Erbse im Halse stecken.

Ich knalle das Geld meines Mäzens auf den Tresen und greife nach dem frischen Whiskyglas. Für wenige Sekunden überkommt mich ein Schauer der Euphorie – ich darf jetzt nämlich kurz rasten. Hier, in der Oase des Singlemalt, am Futtertrog der Geknechteten.

„Cheers“, brumme ich meiner Bar-Nachbarin, einer schlaftrunkenen Semi-Schönheit, deren Date gerade im Badezimmer ist, zu. Es kommt keine Antwort und das ist gut so, denn ich habe ohnehin nichts Anderes erwartet.

Ich trinke einen Schluck und lasse los. Wie die Umarmung eines liebenden Vaters, wie die Klänge Beethovens Neunter erfüllt mich der wärmende Trunk.

Danke. Der Nachmittag ist gerettet.

„Take me down to the Paradise City“, klingt es aus den ramponierten Boxen und ich muss müde lächeln.

Von wegen… Könnte es jetzt eine groteskere Nummer spielen?

Heute ist einer dieser Tage… Einer dieser Tage, an denen mir klar wird, wie nichtig und wertlos wir Menschen und unser Treiben sind, wie verkommen unsere Gemeinden und wie unfähig unsere Könige, Götter und Götzen.

An solchen Tagen möchte ich einfach nur trinken, trinken, trinken und dann platzen. Am liebsten mit Gerard Depardieu als Zeugen.

Ich fühle das Wehklagen all der Künstlerseelen auf dem Planeten. Irgendwie bin ich gerade mit ihnen verbunden. Es scheint, als wären wir bereits vor unserer Geburt miteinander verbunden gewesen und als würde dieses außerordentliche fragile Spinnennetz alle Zeitalter überdauern.

Und es gehört uns, nur uns allein. Hier suchen wir Trost und Rast, nachdem das Leben uns schwere Wunden schlug.

Ich lasse meinen Blick schweifen. In einer Ecke sehe ich eine heruntergekommene Gestalt, die mir irgendwie sympathisch ist. Ihr Gesicht ähnelt als Ganzes mehr einer teuflischen Ledertasche und ich werde das Gefühl nicht los, dass es sich bei dem Fremden um einen Echsenmenschen handelt.

Einige Tische weiter sitzen ein Bub und ein Mädchen beisammen, die beide nichts vom ätzenden Speichel der Gesellschaft zu wissen scheinen, nachdem diese einen zum wiederholten Male ausgespuckt hat. Die Haut der Beiden ist noch zart, ihre Augen leuchten.

Gute Kinder, glückliche Kinder. Die Abtei der Ausgestoßenen hat euch noch keine Invitationen geschickt.

Ich trinke einen Schluck und vergrabe das Gesicht in den Händen. Nicht, weil ich verzweifelt bin. Wirklich nicht. Viel mehr spüre ich, dass ich letzte Nacht früher hätte ins Bett gehen sollen.

Vielleicht sollte ich einen Kaffee bestellen?

Noch während die Frage in den leergefegten Hallen meines Hirns nachhallt, beginne ich zu lachen.

Der Witz war gut, John. Der Witz war gut!

Eine Frau taucht neben mir auf und bestellt ein Glas Hugo an der Bar. Ich merke, dass sie spürt, wie ich sie ansehe und verlegen versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Es gelingt ihr nicht. Ihre Schauspielkünste sind lausig und das finde ich süß.

„Gute Wahl“, murmle ich und proste ihr hollywoodmäßig zu. Du weißt schon, das Whiskyglas komplett locker in der Hand haltend, die Stirn in Falten gelegt und dabei nur zur Hälfte lächelnd.

„Danke“, sagt sie und obwohl sie sich bemüht, nicht zu lächeln – ein Phänomen, das ich in Wien tagtäglich beobachte – schleicht sich doch ein schwaches Leuchten in ihre Augen.

„Dein Wievielter ist das?“, frage ich, ohne mich zu ihr zu drehen.

Sie möchte etwas erwidern, da unterbricht sie der Barmann mit der Rechnung. Unsere kurze Romanze ist vorüber. Die Fremde zahlt, bemüht sich zu einem schüchternen Lächeln, das mehr einer Grimasse ähnelt, und verschwindet aus meinem Sichtfeld.

Es war kurz und schön.

„Das gefällt mir“, knurre ich mit vom Alkohol rollender Bassstimme, „ich werd immer älter, doch die Girls bleiben gleichalt.“

„Deshalb schlingst du deinen Whisky auch mit der wölfischen Eile des ewigen Junggesellen herunter“, schelte ich mich selbst, bevor ich mit hochgezogenen Augenbrauen nicke, dem Äther zuproste und, während meine zwei Stimmen sich versöhnen, das Glas austrinke.

Willkommen im wärmenden Schoß der Unheiligen Matrone.

Hier möchte ich bleiben. Hier möchte ich heulen und lachen.

Nur sie will ich lieben, denn sie hat mich geboren und sie wird mich vernichten.

Es gibt nichts dazwischen.

„Ober! Noch einen!“

Der Barmann, den ich in meiner grenzenlosen Arroganz Herr Ober, oder einfach nur Ober nenne, gehorcht, so wie ein guter Bediensteter zu gehorchen hat. Immerhin kriegt er heute viel Trinkgeld von mir. Also von meinen Mäzenen. Aber das kann er nicht wissen. Punkt.

Ich bin sein bester Kunde hier und das weiß dieser Schurke genau.

„Mit Eis?“, fragt er.

Ich zerfetze ihn mit einem mahnenden Blick. Wäre ich Wiener, würde ich am liebsten sagen: „Waunst noch amoe so a deppate Frog stöst, rutscht ma die Hand os.“

Doch der Blick genügt. Und außerdem bin ich kein Wiener, sosehr ich es auch versuche.

Wie ein Hund, dem man seine Wasserschüssel hinstellt, fühle ich mich, als der Barmann das Whiskyglas vor mir auf den Tresen platziert. Zwischen den Zeilen lese ich: „Hier, deine Medizin, Arschloch.“ Oder etwa: „Erstick dran.“

„Danke“, flüstere ich ins Leere.

Da wären wir also. Kinder der Nacht, geboren aus den ledrigen Schwingen der Fledermaus, aus den fauligen Eiern des Schwarzen Drachen, aus den giftigen Sekreten der Mutterspinne.

Hört das Lied der Zwielichtschwinge! Sie singt und webt. Dabei entstehen die Gedanken der Künstler. Das ganze Netz ist voll mit Gedanken und Ideen und es gibt genug für jeden von uns.

Die Unheilige Matrone beschützt uns und es ist ihr Busen, der uns nährt. Ihr Haar umfängt uns wie ein Netz, ihre Schenkel schließen sich um uns und ihre pechschwarze Zunge singt uns in den Schlaf.

Wehe dem, der ihren Zorn heraufbeschwört!

Meine Augen werden schwarz, meine Nägel verwandeln sich langsam aber sicher in Krallen. Nach diesem Glas muss ich hier raus. Sonst gibt es Ärger.

Und den können wir uns nicht leisten.

Den können wir uns nicht leisten.

 

(Jannis Raptis, „Ansichten eines Troubadours“ Blog 2016, www.jannisraptis.com)

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