Hast du auch manchmal die Befürchtung, dass Gastwirte, Postboten, Ärzte und Trauzeugen in Wirklichkeit ein- und dieselbe Person sind? Du irrst wie ein Fremder durch den Platanenhof und jeder, dem du von deiner Theorie berichtest, sieht dich mit gerunzelter Stirn und Besorgnis an, bevor du schließlich, laut rufend „Und wer bin dann ich?“ umkippst und die Lichter ausgehen.

Genauso erging es mir letzte Nacht, bis ich schnaufend wie ein Blasebalg aus dem Schlaf hochschreckte und in schäumendem Delirium feststellte, dass das alles nur ein Traum gewesen war.

Kennst du das? Nein?

Okay, dann gratuliere ich dir.

Falls du jedoch, so wie ich, keine Übereinkunft mit deinem Realitätsquotienten findest, dann kann ich dich beruhigen: Der Moment, in dem du dir ganz nonchalant denkst „Scheiß drauf“, ist der Moment, in dem alles bergauf zu rollen beginnt.

Vertrau mir. Mit dem Areal kenn ich mich aus.

Ich geriet also in einen heftigen Sturm aus Wärmeschauern und auditiven Halluzinationen, als die Übermüdung mich ins Reich der Träume nötigte. Und wir alle wissen: Diese Equipage wird von Charon höchstpersönlich gelenkt.

Alles verschwamm langsam aber sicher ins Fratzenhafte. Wäre ich dem Wahnsinn nicht schon oft zuvor begegnet, hätte ich mich vermutlich gefürchtet. Nun jedoch nahm ich die Astralreise mit dem kühnen Blick des Wissenden an, mit der Überzeugung und der Stirnfalte eines Mannes, der in seinem Leben bereits zu oft abgedriftet war, um jemals wieder ins Bürgertum zurückkehren zu können.

Ich war ein Bergsteiger, der die höchsten Gipfel erklommen. Und ich kehrte zurück, um einen weiteren Berg zu besteigen.

Den Wogen des nicht erklärbaren Zustandes namens Träumerei entsprangen verzerrte Gesichter, Musik fern jeden tonalen Zentrums und Aromen, die ich niemals zuvor gerochen. Ich gelangte in eine griechische Taverne, über deren Tresen seltsamerweise eine riesenhafte amerikanische Flagge prangte. Der Gastwirt, ein Grieche mit ebenmäßigen, edlen Zügen, gesundem Bartwuchs und strahlendem Auge, sprach zu mir. Er hatte einen starken amerikanischen Akzent und faselte irgendetwas von Farbeimern, die ich nicht weggeräumt hätte. Dabei versäumte er nicht, mich darauf aufmerksam zu machen, dass seine Bezahlung noch ausbliebe.

Ich hörte eines meiner jüngeren, noch unveröffentlichten Lieder in meinem Kopf; „Lullaby for Lady Liberty“. Ich sah die Freiheitstatue hinter dem Wüterich aufragen, und wenngleich sie von Innen hohl war und ihr Feuer in geradezu polemischer Ergriffenheit und falschem Nationalismus gen Himmel streckte, fühlte ich ein weiteres Mal – ja selbst im Traum! – dass ich dorthin, und nur dorthin, gehörte.

Nach Amerika. In die Neue Welt.

Dort, wo ich auf der Gosse landen würde, wenn ich nicht hart genug arbeitete. Dort, wo die Konkurrenz so groß und das Gefühl des Wettkampfes so präsent war, dass einem gar nichts anderes übrig blieb, als zum Workaholic zu werden und voranzuschreiten.

I believe… I believe that in America I will be washed clean.

Ich sah die geisterhaften, angsteinflößenden Gestalten meiner vergangenen Lieben vor der Küste von New York ertrinken, und dort, inmitten von Meerrausch und Sonnenglast überkam mich erneut dies seltsame Gefühl, das mich seit meiner Geburt dorthin gerufen. Der Ruf der Freiheitsstatue; oder noch besser: Der Ruf der Freiheit.

Tränen traten in die Augen des Enthusiasmierten. Dann verschwamm das Bild. Die Stimme des wutentbrannten Gastwirts drang nur mehr gedämpft zu mir, als ich wenig später auf einer Feier landete. Es roch nach eben jenem süßen Popcorn, welches die Zigeuner in den verwahrlosten, ja lebensgefährlichen Luna Parks von Chalkidike seit jeher anpriesen.

„Herzlichen Glückwünsch“, hörte ich irgendjemanden rufen, als mir klar wurde, dass ich auf einer Geburtstagsfeier gelandet war. Wenige Sekunden später – gibt es im Traum so etwas wie Zeit? – befand ich mich unter den Feiernden, die zu einem halbherzig gespielten Blues vor sich hin tanzten. Ich folgte ihrem Beispiel und spürte eine warme Wange auf der Meinen.

So tanzt man also Blues, dachte ich mir und erschrak, als es an der Tür klopfte. Wieso? Woher? Seit wann gab es Türen in Luna Parks?

Noch während die Tür sich wie von Geisterhand öffnete, überkam mich eine Woge der Furcht. Und noch bevor eben jener an der Schwelle erschien, den ich fürchte, wusste ich bereits: Er ist hier.

„Verzeihung“, sagte der Postbote, „ein Telegraph.“

Eine seltsame Ausweitung meines Inneren ward mir ganz überraschend bewusst und ich stieß einen markerschütternden Schrei aus, wobei ich mich an die Beine einer Frau klammerte, die ich nicht kannte.

„Bitte hier unterschreiben“, hörte ich den Postboten zu einem der weiblichen Gäste sagen. Dann wünschte er eine gute Nacht und verschwand aus dem Bild.

Verstimmung befiel mich. Der Gastwirt war also zum Postboten aufgestiegen. Das Spektakel hatte sich in ein Debakel verwandelt, das Gespenst in ein Gespinst. Noch bevor ich in Erfahrung bringen konnte, worum es in dem Telegramm ging, wurde ich in eine ganz und gar furchtbare Szenerie hineinkatapultiert, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich landete in einem Zimmer, das einst ein impressionistisches Gemälde gewesen sein mochte, nun jedoch völlig trist, leer und inspirationslos ein paar vereinzelte Möbelstücke preisgab. Doch auf dem Boden kauerte eine leblose Gestalt; ein Mädchen von entzückender Grazie und Schönheit, das vergiftet worden war.

„Holt einen Arzt, holt einen Arzt“, riefen mehrere Stimmen gleichzeitig und plötzlich geriet das Stilleben in Aufruhr.

Sie hätte Gift geschluckt und sich das Leben genommen, der Arzt wäre auf dem Weg.

Stumm wartete ich ab. Es gelang mir nicht, die Gesichter der Anwesenden zu ergründen. Warum auch? Waren sie überhaupt? Oder bestanden diese Gesichter aus nur einem Pixel? Wie viel Budget hatte dieser Traum? Wer investierte in meine Träume? Woraus bestanden Träume? Gab es ein Archiv, in dem alle Träume, die je geträumt worden waren, aufbewahrt wurden? Konnten Tiere träumen?

Feststand: Ich war ein Tier und ich war nicht beschädigt. Ich war ein kleiner Vogel, der vorübergehend seinem Käfig entflohen war.

Der Arzt kam.

Und ich geriet in Panik und Geifer, als er sich über das tot geglaubte Mädchen beugte und – während sein Stethoskop zum Einsatz kam – eine Augenbraue hob und mir einen wissenden, mahnenden Blick zuwarf, der sich wie eine Harpune in mein Gedärm bohrte. Hilfe, dachte ich mir. Hilfe!

Ich schuldete ihm Geld. Ich hatte ihn entehrt. Beinahe wollte ich in der Position des vergifteten Mädchens sein, so sehr fürchtete ich das Gericht, das mich erwartete. Der Gastwirt hatte den Postboten hinter sich gelassen und war nun zum Arzt geworden. Ich – nur ich allein! – wusste das. Und obwohl Todesangst mich erstarren ließ, packte mich auch eine seltsame Euphorie, ein Gefühl der Überlegenheit, da ich dies wertvolle Wissen in mir trug. War Wissen nicht die einzige Kraft, die einen Dämon solcher Natur zunichte machen konnte?

Wieder verschwamm das Bild und ich erfuhr nie, was aus dem Mädchen geworden war. Ich landete inmitten einer Hochzeit. Die Hupen der Taxis drangen an mein Ohr und vermischten sich mit dem „Lullaby for Lady Liberty“, das wahrheitsgemäß gegen Ende hin zu einem Pattern zwischen G-Moll Sieben und F-Moll Sieben ausartete und in einem diskolastigen Beat vor sich hin groovte.

„Die Taxis, die Taxis!“

Ich wusste nicht, ob es meine Stimme war, die erklang, oder die eines Anderen. Ich stellte jedoch fest, dass Bräute und Bräutigame plötzlich aufkreuzten und das Geschehen noch Surrealer machten, als es sich ohnehin schon anfühlte. Und ich? Ich war mitten unter ihnen.

Dann kam er.

Jener, den sie Trauzeuge nannten. Jener, dessen mahnender Blick mich traf und meine Eingeweide zum Brennen brachte. Der Rachedämon, der mich verfolgte. Und niemand, niemand konnte mich verstehen.

Die Institution namens Hochzeit präsentierte sich mir in diesem Augenblick in all ihrer falschen Frömmigkeit. Es wurde geheiratet, weil es sonst nichts Besseres zu tun gab. Es wurde Liebe empfunden, weil alle anderen Empfindungen fad zu schmecken begonnen hatten. Jeder hätte jeden lieben können. Es hätte nichts am Lauf der Dinge geändert. Es hätte nicht einmal etwas an meinem inszenierten Traum geändert.

„Sind Sie nicht der Gastwirt?“, kreischte ich manisch. Man verneinte. „Auch nicht der Postbote?“ Erneut erhielt ich ein Nein als Antwort. „Dann sind Sie auch nicht der Arzt?“ Nein.

Panisch, mit Schaum im Mund und blutigem Auge, erbebend und nass brüllte ich schließlich mit tränenüberströmtem Gesicht: „Und wer bin dann ich?“

Ich erwachte. Kalter Schweiß klebte auf meiner Stirn. Meine ergrauende Schläfe pochte. Ich erfreute mich des Bloggens und noch mehr der Tatsache, dass das alles nur ein Traum gewesen.

Nun sitze ich teetrinkend am Schreibtisch und walte meines Amtes wie ein guter Zollbeamter. Mit dem seligen Gesichtsausdruck, den der April in uns hervorzulocken vermag, neige ich mein Haupt und sage dir: Danke fürs Lesen.

Ebenso möchte ich meinem Freund Theodoros herzlich für die Inspiration danken.

Falls du, lieber Leser, mir auch von deinem Traum berichten willst, kannst du mich jederzeit kontaktieren. Ich sehe mich heute als Zollbeamter des grotesken Traums. Warum auch nicht? Irgendwer muss ja auch diesen Job machen, oder?

In der Hoffnung, dass es dir gut geht, überlasse ich dich jetzt deinem hoffentlich gelungenen Wochenstart und begebe mich ins Fitnessstudio, wo ich mich der Leibesübung hingeben werde, wie ein guter Grieche mit narzisstischen Zügen und gleichmäßigem Bartwuchs es auch zu tun hat.

Auf die Schönheit!

Auf das einzig Göttliche, das mit bloßem Auge sichtbar ist.

Den einzigen Grund, morgens sein Bett zu verlassen.

 

Dein Troubadour

 

 

(Jannis Raptis, „Ansichten eines Troubadours“ Blog 2017, www.jannisraptis.com)

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