Ich wechsle gerade die Saiten meiner Gitarre und denke über so dies und jenes nach. Darüber, dass wir Menschen das Talent haben, den Moment zu verpassen, darüber, dass wir uns in der großen, weiten Welt verlieren und verzweifelt nach Lichtschaltern suchen, dabei in Gesellschaft, und doch stets einsam sind, darüber, dass wir Götzen anbeten, die von rachsüchtigen Dämonengöttern bis hin zu materiellen Gütern reichen, darüber, dass wir uns von morgens bis abends der Konvention fügen, was von scheinheiligen Eheschließungen bis hin zu Vierzigstundenjobs reicht, die wir in Wahrheit hassen, und darüber, dass wir die angeborene Neigung haben, uns gegen das Tao zu stellen, WISSEND, dass wir uns dabei selbst ins Knie schießen und gleichzeitig dennoch nichts dagegen unternehmen wollend, fast so, als würden wir uns daran angeilen, Blut zu husten.

Darüber denke ich nach und spanne im selben Moment die G-Saite. Die G-Saite ist das schwarze Schaf unter den Gitarrensaiten. Erstens, ist sie ausnahmslos IMMER verstimmt, das geht gar nicht anders. Zweitens weicht ihre Relation zur H-Saite geringfügig von der allgemeinen Gliederung der Saitenverhältnisse ab, was das ganze System zur Sau macht.

So ähnlich wie der Broadway, der sich vollkommen emanzipiert durch Manhattan schlängelt und auf alle Regeln scheißt.

Danke, Gustav!

Ja. Aber so ist das Leben. Es gibt immer einen, der sich gegen die Gitterstäbe wehrt und dann gescholten wird, ebenso, wie ich gerade die G-Saite schalt. Wieso eigentlich? Hat sie es nicht verdient, ihren eigenen Weg zu gehen? An ihren eigenen Gott zu glauben? Worin liegt das Problem? Wieso muss ich wieder so rumspießen?

Schwarze Schafe sind gute Schafe. So. Aus.

Gustav, ich muss mich entschuldigen. Ich finde es eigentlich voll okay, dass du von Quart und Terz flankiert wirst, ich finde es okay, dass du dich gerne verstimmst und ich habe NICHT das Recht, dich zu schelten, weil du mutiger warst als alle anderen.

Du hast nach einem Platz in der Welt gesucht. Und wenngleich er sich nicht allzu symmetrisch ins Quarten- und Kastensystem fügt, so ist er doch umso wertvoller, da DU ihn gewählt hast.

Du hast Meisterhaftigkeit erreicht. Denn du bist öfters gescheitert, als der Schüler es überhaupt versucht hat.

Du hast nach der Wahrheit gesucht und sie für dich gefunden.

Denn ist das ganze Leben nicht eine Suche? Eine Suche nach „einem Platz in der Welt“, „sich selbst“, „der wahren Liebe“, „dem Sinn des Seins“, „Gott“, „dem Hausschlüssel, den man im Vollsuff verloren hat“?

Tja. Und wer den Schlüssel nicht findet, übernachtet eben im Stiegenhaus. Auch okay! Jeder, der von sich behauptet, noch niemals alleine auf der Treppe geschlafen zu haben, der lügt.

Hoffe ich.

Die Straße gleitet fort und fort, weg von der Tür, wo sie begann

Oder: Nicht alle, die wandern, sind verloren.

Danke, Tolkien. Wie schafft dieser Mann es, mit so kurzen, so magischen Sätzen so unfassbar viel auszusagen?

Und ich elender Wurm, der ich es nicht einmal wert bin, seine Schuhe zu putzen, sitze da, zitiere den Meister in meiner grenzenlosen Vermessenheit und blogge.

Autoren wurden zu Bloggern. Minnesang-Sessions wurden zu Rendezvous zu Dates und schließlich zu Booty-Calls. Tafelrunden wurden zu Whatsapp-Gruppen. Wohltrainierte Handküsse wurden zu „Thumbs Up“. Oft vor dem Spiegel geübte, kokette Augenaufschläge wurden zu Emojis mit Schlaganfällen.

Ich könnte kotzen.

Doch die Straße gleitet fort und fort… Die Welt ist im Wandel. Während Nickelback aus den beschädigten Boxen des Taschenradios dringt, rinnt ein Schweißtropfen meine Stirn hinab, vorbei an Braue, Auge und haariger Wange, bevor er schließlich in der Grube meines wohlgeformten Kinnes kurz zur Ruhe kommt. Er zögert. Hält sich an der letzten Faser des Bartstoppels fest.

Dann fällt er. Ergibt sich den Gesetzen des Kosmos. Wird von seinem eigenen Gewicht gen Erdboden befördert, wo er schließlich mit einem Klatschen landet und für immer vergeht.

Bedeutungslos. Einsam. Vollkommen irrelevant für die Wege des Kosmos.

Man murmelt ein „Ich ruf dich an“, nachdem man statt Liebe zu machen, eine leidenschaftslose Terminvereinbarung eingehalten hat. Man hört Lieder, die keine sind, sich jedoch solange als solche schimpfen und verkaufen, dass man irgendwann selbst dran glaubt. Man isst einen Apfel und verschluckt sich nicht länger an den Kernen, sondern an den chemiebehafteten Dollarzeichen, die aus Pixel bestehen. War der Apfel überhaupt real oder nur ein metallenes Idol der Götzenanbeter? Man öffnet das Fenster und statt frischer Luft, weht einem ein vollgestopfter Posteingang entgegen. Vollgestopft mit Unrat, bei dem sich selbst dem Spam-Ordner der Magen umdreht.

Dabei spiel es Nickelback und die Welt ist in Bewegung.

Alles ist in Bewegung.

Und bevor du es realisierst, greifst du dir ein weiteres Mal an die Schläfe und denkst: Ich hab ihn wieder verpasst. Den Moment, der alles hätte verändern können.

 

 

 

(Jannis Raptis, „Ansichten eines Troubadours“ Blog 2016, www.jannisraptis.com)

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