Sengender Schmerz durchfuhr ihn, als der Holzpflock nur knapp sein Herz verfehlte und sich tief in seine Schulter bohrte. Er atmete den Rauch ein, fühlte die Hitze des Feuers, das ihn hätte töten sollen. Irgendwo bellten die Windhunde, die seiner Blutspur gefolgt waren. Er sprang. Hängte sämtliche seiner Verfolger ab und segelte durch die eiskalte Dunkelheit des Brunnenschachtes. Dabei hielt er mit beiden Händen das Bündel fest, das ihm all diese Strapazen beschert hatte.

Sein Umhang flatterte wie das Flügelwerk einer Fledermaus, als Franz mit der Geschwindigkeit eines Pfeils durch den stockdunklen Brunnenschacht sauste, und wäre irgendjemand töricht genug gewesen, an diesen Ort der Trostlosigkeit herabzusteigen und wäre er Zeuge des Geschehens geworden, das sich in diesem Augenblick zutrug, so hätte sich ihm folgende Frage aufgedrängt: War dies befremdliche Etwas Mensch oder Fledermaus? Konnte es fliegen oder hatte der freie Fall es erwischt und es würde zu Boden klatschen und wie eine überreife Frucht platzen?

Doch niemand verirrte sich hierher. Niemand kletterte in die Brunnenschächte der Unterstadt, um die Labyrinthe der Kanalisation zu betreten. Und so gab es niemanden, der dabei zusehen konnte, wie Franz, ob nun Mensch oder Fledermaus, den Grund des Brunnens lebendig erreichte. Als seine Füße den nassen Boden berührten, hallte das Klacken seiner Lederstiefel noch lange in der Finsternis nach.

Denn finster war es. So finster, dass nichts, absolut nichts, für das menschliche Auge sichtbar gewesen wäre. Seit Äonen war nämlich kein Licht hierher gedrungen.

Doch Franz war kein Mensch. Und seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, als er nun den Weg durch die Labyrinthe der Kanalisation einschlug. Diesen einen, wohlvertrauten Weg, den er so oft gegangen war…

Dabei hielt er das Bündel in den Händen, als hätte er Angst, es würde ihm abhandenkommen. Ob er wegen der Kälte oder aus Angst zitterte, konnte er nicht einmal mehr selbst sagen. Dass die Wunde, die der Pflock ihm beschert hatte, schon nicht mehr schmerzte, fiel ihm kaum auf. Er war ein Rückkehrer. Er fühlte nichts als Kälte.

Aber da war noch etwas und das wusste er. Das Gefühl, erwartet zu werden. Denn sie beobachtete ihn. Sie war hier, ihr entging nichts, was in ihrem Nest geschah. Erwartungsvoll räkelte sie sich in der Dunkelheit, spreizte ihre Beine, spie sich auf die wundgeriebenen Brüste und labte sich an den Überresten ihrer Opfer.

Was würde sie sagen, wenn…

Nein. Es gab nun kein Zurück mehr. Franz hatte getan, was sie von ihm verlangt hatte. Und Franz war zurückgekehrt. Sie hatte keinen Grund, ihn zu bestrafen. Ihr Diener kehrte zurück, lebendig, und in seinen Händen trug er, was die Meisterin von ihm verlangt hatte.

Franz wusste nicht, wie lange er durch die Dunkelheit schritt und diesem Weg folgte, den er in- und auswendig kannte. Die Stimmen seiner Verfolger, das Bellen der Hunde, Rauch, Feuer und Alarmglocken hallten noch in seinem Inneren nach, vermischten sich zu einer Brühe des Entsetzens.

Beinahe hatten die Feinde ihn erwischt gehabt. So knapp war es noch nie gewesen.

Es mochten Minuten oder Stunden vergangen sein, als er endlich den wohlvertrauten Geruch seiner Meisterin wahrnahm. Es roch nach Tod.

„Komm – zu – mir“, hörte Franz das langgezogene Flüstern durch die engen Tunnel geistern.

Er schluckte, fühlte die Kälte, fühlte den Tod. Wieso fürchtete er sich? War sie nicht stets gnädig gewesen? Hatte sie ihm nicht stets verziehen? Ihn an ihren Brüsten genährt, ihn die Künste der Liebe und des Tötens gelehrt?

Sie würde ihm vergeben. So wie immer.

Als Franz das Gewölbe betrat, in dem sie hauste, flackerten urplötzlich die grünen Lichter auf, die er beinahe schon vergessen hatte. Ja, sie wollte ihn ansehen, wollte, dass er sie ansah. Wollte sich ihm in all ihrer Abscheulichkeit und Pracht präsentieren.

„Willkommen – zu – Hause“, dröhnte die überlaute Flüsterstimme durch das Gewölbe und jedes Lebewesen, das sie gehört hätte, wäre verwelkt und beim bloßen Klang ihrer Stimme wahnsinnig geworden.

Franz blieb stehen. Dann ging er in die Knie. Er zitterte, er schlotterte wie der Welpe, der er einst gewesen war. Damals, bevor Leben und Tod ihm genommen worden waren. Damals, bevor das erste Blut seine Lippen benetzt hatte.

Bevor sie ihn großgezogen hatte.

„Hier im Dunklen kauere ich“, drang die Flüsterstimme an sein gemartertes Ohr, „hier in den Schatten warte ich, fresse, fresse, fresse. Wo war mein Kind, so fragte ich. Welch Übel hat‘ es nieder’streckt! Äonen in der Dunkelheit, Äonen im Geäst.“

Die flackernden Lichter nahmen ein wenig zu und Franz richtete den Blick auf das Podest, vor dem er kniete.

Dann sah er sie…

Nach all den Jahren sah er sie wieder. Jene, die ihn großgezogen, jene die ihn ausgeschickt hatte, den zu töten, dem sie Rache geschworen. Sie war weder jung noch alt, weder Mensch noch Tier, weder gut noch böse und jeder Sterbliche, der sie gesehen hätte, wäre dem Wahnsinn anheimgefallen oder hätte sich sofort in die messerscharfen Felsen gestürzt.

Ihr Schatten füllte das ganze Gewölbe aus und er war so entsetzlich, dass selbst Könige und Rittersleut, kreischend wie kleine Mädchen, die Flucht ergriffen hätten. Und wer diesen Anblick überlebt hätte, um seinen Nächsten davon zu berichten, der wäre an seiner eigenen Zunge erstickt. Doch hätte er versucht, das Erlebte niederzuschreiben, so hätte er sich mit der Schreibfeder beide Augen ausgestochen.

Was hatte er gesehen? War es der Tod gewesen? Oder das Leben?

War es die Kluft zwischen Leben und Tod gewesen? Oder gar das Versprechen, dass es nichts dazwischen, danach und davor gab?

Hatte er die Mutterspinne gesehen? Die Königin der Abscheulichkeit, wie sie lauerte, die acht Beine angewinkelt, der riesenhafte, monströse Rumpf allzeit zum Sprung bereit… Die Augen tot und farblos, die Zähne jedoch triefend und hungrig, stets hungrig.

Hatte er die Königin der Succubi erblickt? Die Dämonin, gewaschen in den Feuern der tiefsten Höllenkreise, geboren in der Asche des Unaussprechlichen. Die Brüste groß und voll mit schwarzer Milch, die Scham gerötet von all den Schandtaten, die sie vollbracht, von all den grässlichen Totgeburten, die sie zur Welt gebracht?

Hatte er den Schattendrachen gesehen? Den Drachen, der Mutter, Tochter und Hure zugleich war?

Was hatte er gesehen? Was hatte er gesehen, bevor Angst und Wahn ihn getötet hätten?

Franz wusste es. Denn Franz konnte nicht sterben. Er hatte sie wieder und wieder gesehen, die Meisterin. Hatte ihr ins tote Auge geblickt, hatte ihr auch ins schwarze Auge geblickt, als es noch nicht blind gewesen war. Er war wieder und wieder in ihr gewesen, hatte ihr die Brut eingepflanzt, die sie ausgetragen hätte, hatte all seine Kraft in sie gegossen, auf dass sie sich dran labte…

Und stark war sie geworden! Ein mächtiges, königliches Ungetüm von unaussprechlichem Ausmaß.

„Komm zu mir, komm an meine Brust, mein durstiges Kind. Nähre dich an meinen Schatten, trink sie, trink sie“, sprach die dröhnende Flüsterstimme und der Befehl zerriss Franz‘ Fleisch, Knochen und bohrte sich direkt in sein Herz.

Konnte er der Meisterin irgendeine Bitte abschlagen?

Niemals.

Langsam richtete er sich auf und schritt aufs Podest und zwischen die gespreizten Beine der Abscheulichkeit, der Göttin, der Schwarmmutter. Sofort umfing ihn ihre Wärme, sofort fühlte er den Sog der Weiblichkeit, die Hitze, die Nässe.

Die Dunkelheit.

„Du trägst mit dir, weswegen ich dich fortsandte“, sprach die Stimme und sie klang wie tausend Rasierklingen. „Zeig es mir.“

Motorisch öffnete Franz das Bündel und leerte es vor seiner Herrin. Der abgeschlagene Kopf klatschte auf den Steinboden, rollte eine Weile umher und als er Anstalten machte, vom Podest zu fallen, rammte die Mutter eines ihrer Beine in den kalten Boden. Die Erde bebte.

„Oh, Claudicus, armer Claudicus! Vergessen ist dein Name, vergangen dein Geschlecht. Doch niemals wird Vergebung folgen“, sagte die Meisterin zufrieden. „Mein Kind, du bist siegreich gewesen.“

Ihre weichen Beine umschlossen Franz‘ Kehle und streichelten sie zärtlich, bevor eine der tentakelartigen Zungen seinen Mund liebkoste. Der Rumpf des Wesens jedoch brodelte und tausend Hände schlugen von Innen gegen die Bauchdecke, in der Hoffnung, noch ein Mal das Licht der Welt zu sehen, bevor sie verbrannten.

Spinne, Schlange und Succubus in Einem war sie, als die Meistern sich herabbeugte und ihre Busen an Franz‘ Kopf rieb. Pechschwarze Milch floss aus ihren Brustwarzen und bedeckte sein geschundenes Gesicht. Reinigte es. Spülte Kummer und Blut fort.

Dann kam der massive Rumpf schwerfällig in Bewegung und die Herrin stülpte ihren Schoß über das heimkehrende Kind. Beinahe meinte Franz die Klagerufe all der Verdammten zu hören, die in diesem Augenblick in ihrem Inneren waren und dort dem größten Grauen begegneten. Sie schmorten, sie litten Höllenqualen. Und sie würden wiedergeboren werden als neue Kreaturen.

Genau wie er… vor langer Zeit.

Er fühlte die Sekrete der Weiblichkeit auf seiner Zunge, schmeckte die Flüssigkeit, die Tod und Leben brachte, inhalierte die Verwesung.

„Herrin“, brachte er gepresst hervor. „Herrin…“

Doch sie hörte ihn nicht, war einzig darauf aus, ihn zu belohnen, sich zu bedanken.

„Herrin“, winselte er, bevor heiße Tränen seine Wangen hinab rannen und sich mit den Sekreten der Abscheulichkeit vereinigten. „Vergebt mir, Herrin, denn ich habe mich des größten Verbrechens schuldig gemacht.“

Für den Bruchteil einer Sekunde hielt das Scheusal inne und die Königin der Schatten schien zu lauschen. Zu brüten.

Zu lauern.

„Ich habe sie hierhergelockt“, wisperte Franz heiser. „Sie wissen, wo Ihr zu finden seid.“

Eine Weile herrschte Stille. Es war die wissende Stille, die dem Tod vorauseilt. Dann ging ein Beben durch den riesenhaften Körper der Alptraumkreatur und als sie die Lippen ihrer Weiblichkeit spreizte, um Franz darin aufzunehmen, klapperten die messerscharfen Zähne in ekstatischem Zorn.

Franz brüllte.

Dann umfing ihn Dunkelheit.

 

(Jannis Raptis, „Ansichten eines Troubadours“ Blog 2016, www.jannisraptis.com)

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