Schon immer war die Realität für mich nur eine von vielen Optionen. Mittlerweile habe ich wenigstens das über mich gelernt. Im Neunzehnten zu leben, hatte stets den Vorteil, dass die Portalstube sauberer organisiert war.

Hier kann man sich recht kurzfristig entscheiden, welche Welt man betreten möchte.

Episode 12: Ein Kapitel endet, ein neues beginnt Jannis Raptis | Geschichten aus dem Neunzehnten

Dies ist die letzte Episode der "Geschichten aus dem Neunzehnten". Es war ein tolles Jahr! Auf ein weiteres mit neuen Abenteuern!
  1. Episode 12: Ein Kapitel endet, ein neues beginnt
  2. Episode 11: Kaiser in der Kaiserbar
  3. Episode 10: Die Helden der Döblinger Legion
  4. Episode 9: Trautes Heim, Glück allein
  5. Episode 8: Soko Nussdorf

Nun ist also ein Jahr vergangen und die Blätter färben sich wieder bunt. Die Berichte auf vergilbten Pergamentseiten, die ich zwischen Gasthäusern und Kaminstuben verfasste, entgleiten meinen Händen. Die Geschichten aus dem Neunzehnten sind geschrieben. Ein Kapitel endet, ein neues beginnt. Rückblickend bleibt mir nicht mehr viel zu sagen. Ich wünschte, ich könnte mit einem schlauen Satz eine rote Linie ziehen. Ein Fazit von mir geben, wie sie in Hollywoodfilmen gern hineingepresst werden, um das herbeigeeilte Ende noch irgendwie zu rechtfertigen. Aber mir kommt kein cooler Spruch. Wozu auch? Es ging nie darum, eine Botschaft zu erhalten oder den Sinn des Lebens zu begreifen. Es waren bloß simple, möglichst ehrliche Beobachtungen. Das Leben aus der Sicht eines Menschen, der es auf der einen Seite wirklich einfach hatte und ein tolles Dasein führt, auf der anderen Seite jedoch – so, wie die meisten seiner Kaste – immense Schwierigkeiten hatte, es mit der bitteren Realität aufzunehmen. Ich denke, was mir diese Beobachtungen am Ende des Tages gezeigt haben, war, dass nicht ganz klar ist, ob es nun einzig das Leben des Künstlers ist, das jemanden wie einen Pingpongball durch die Gegend schleudert, oder tatsächlich die Generation der frühen Millennials und Gen Zettler. Ich fühle mich längst nicht mehr so allein. Jeder hat seinen eigenen Kampf mit der sogenannten Realität auszufechten und jeder tut, was er kann. Es gibt kein Allheilmittel, nur individuelle Lösungsvorschläge.

In meinem Fall schwelge ich tagaus tagein im Nostalgiefass der Neunziger und ich denke, es wäre mal ein Anfang, damit aufzuhören. Es ist süß. Natürlich ist es das. Es waren bessere Zeiten für das Musikbusiness. Man konnte noch Musik machen. Den ganzen Tag in der Garage proben und dann paar Gigs checken. Und irgendwann wurde man dann „entdeckt“. Oder eben nicht. Tonträger besaßen noch einen Wert und wer Gitarre spielen konnte, war grundsätzlich cool.

Jetzt?

Jetzt ist es halt anders. Was in den frühen 2000ern, während meiner Pubertät, begann, hat sich längst in eine Richtung entwickelt, die für die Welt von „früher“ völlig unvorstellbar gewesen wäre. Ich erinnere mich noch gut an meine Kindheit voller CDs, Kassetten und Schallplatten. Ich erinnere mich auch gerne an besagte 2000er mit der mp3. Es war mir damals wurscht, dass die Audioqualität einer mp3-Datei völlig miserabel war und es war mir auch irgendwie wurscht, dass man alles downloaden konnte. Was mit Limewire und Bearshare begann und später zu massiven Torrent-Downloads entartete, bedeutete für mich lediglich, dass auch Leute ohne Kohle CDs hören durften. Die Industrie war deshalb noch nicht tot, so befand ich, und ich kaufte CDs, wann immer ich die Möglichkeit hatte.

Dann kam die Zäsur. Das Jahr 2008. Und das erste Smartphone.

Mit einer nicht versiegenden Quelle an Internet in der Tasche war es nur eine Frage der Zeit, bis das eintreffen sollte, was nun der Standard ist. Das Streaming. Und damit die Enteignung und völlige Wertlosigkeit des Datenträgers. Als ich offiziell zum Berufsmusiker wurde, endete eine Welt und eine neue begann.

Und ich hab lang gebraucht, den Switch zu begreifen, dann zu finden, und schließlich umzulegen.

Diese Jahre bekomme ich nicht wieder zurück. Ich startete in einem Strudel sich völlig verändernder Werte- und Wirtschaftsvorstellungen. Und nun weiß ich, dass es – und ich werde nicht aufhören, das zu sagen – früher besser war. Zumindest was das Dasein als Musiker betrifft.

Denn während man damals einfach Musik spielen und sich auf seinen Beruf fokussieren konnte, ist man nun mit gänzlich anderen Dingen beschäftigt, die einem Musiker von „Damals“ – würde man mit einer Zeitmaschine zurückfahren und ihn damit konfrontieren – absurd vorkämen.

Denn zusätzlich zur Realität – dem Konzert oder der Tonaufnahme oder meinetwegen noch den Public Relations – gibt es nun die Metaebene. Eine Parallelwelt, deren Beschaffenheit dem menschlichen Gehirn Kopfzerbrechen bereitet und die sehr, sehr schwer zu verstehen ist. Man muss im Internet präsent sein und dort irgendwelche wildfremden Menschen erreichen, indem man Kurzvideos hochlädt. Man muss Online-Marketing betreiben, nonstop. Man muss Google bezahlen, um den Code zu knacken, man muss Facebook bezahlen, um den Algorithmus zu füttern und man muss Playlist-Kuratoren den digitalen Pfahl saugen, damit sie – talentbefreit und stumpf – einen auf ihre Playlists eintragen.

Und das ist nur mal ein kleiner Teil des Karnevals. Was man hauptsächlich tun muss, ist Content createn, und das täglich UND in hoher Qualität. Täglich, weil man sonst augenblicklich vergessen wird bei der kurzen Aufmerksamkeitsspanne und der Übersättigung des Marktes, und hohe Qualität, weil man ja irgendwie mithalten muss mit der Konkurrenz und der Messlatte des Publikums.

Und wenn man in all dem Trubel dann noch Zeit findet, sich um das unmittelbarste und schönste an der Musik zu kümmern – der Livemusik – verbringt man den Rest des Tages – sofern noch Stunden vorhanden – mit E-Mails und Telefonaten, denen eine endlose Recherche vorauseilt und die wiederum nur dann fruchten, wenn man genug Followerzahlen generiert hat.

Es ist ein Leidensweg, den man lieben lernen muss, sonst wird’s nix mit der Karriere.

Ja, und manchmal spielt man dann halt auch bisschen Musik.

Dafür machts dann auch ganz doll viel Spaß.

All das denke ich mir und fühle eine Woge der nüchternen Klarheit, während ich die Sieveringerstraße entlangspaziere und vor meinem alten Haus stehenbleibe. Hier, wo alles vor neunzehn Jahren begann. Im schönen Sievering, wo das Eintauchen in andere Welten noch ausreichte. Wo noch die alte Welt herrschte, die nun vergangen ist. Und plötzlich, während ich auf die verdunkelten Fenster des oberen Stockwerkes blicke, dort, wo ich als Jüngling zu schreiben und zu komponieren begann, mischt sich noch ein Gefühl in das Kaleidoskop.

Ruhe.

Wir können den Schmerz nicht alleine tragen. Das ist nicht unser Job! Und es ist nicht unsre Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Wahrscheinlich ist es niemandes Schuld. Denn war es nicht immer so? War es nicht immer so, dass Zeiten sich veränderten? Dass alte Kapitel endeten, um neuen Platz zu schaffen?

Gen Z wird eines Tages auch alt sein. Wer weiß, was noch passieren wird, so drastisch, wie sich die Welt entwickelt!

Wir sind alle irgendwann Dinos, früher oder später.

Und während sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet und der zuckersüße Schmerz der Nostalgie mich zu überschwemmen droht, kommt mir ein Gedicht von Ferdinand von Saar in den Sinn. Sein Gedicht über Döbling, den Neunzehnten Bezirk, welches ich mir und allen Gestrandeten widme, meine tränenden Augen auf die Fenster der einstigen Schreibstube gerichtet, wo ich – in einem anderen Leben – schrieb, träumte und reiste.

Dich auch seh‘ ich jetzt wieder, du liebes, du freundliches Döbling,
Das ich vor Jahren begrüßt als ein erwünschtes Asyl.
Damals warst du ein Dorf mit stillen, sonnigen Gassen,
Wo sich der Wiener Quirit wohlige Häuser gebaut:
Schmucklos, aber bequem, mit fest gegründeten Mauern,
Lauschigen Gärten, die traut sich ineinander verzweigt.
Heute gehörst du zur Stadt und hast dich danach auch verändert;
Kaum zu erkennen mehr bist du dem nahenden Blick.
Wo ist die Reihe der Linden, die einst vom Linienwalle,
Kühlend und duftend zugleich, mich dir entgegengeführt?
Wo, zur Rechten, das Feld, das ausgedehnte, umplankte,
Drin Cyanen und Mohn wallende Ähren geschmückt?
Ach, verschwunden der Reiz des ländlichen Anblicks! Es ragen
Nüchtern, einförmig und hoch neue Gebäude empor.
Baugrund wurde der Acker, und das Geleise des Tramway
Fällte die säuselnde Pracht schattiger Wipfel schon längst.
Aber getröste dich, Herz! Noch weiß ich Gassen zu finden,
Die sich auch heute gewiß, was dich erfreute, bewahrt.
Sieh: da stehen ja schon und grüßen bekanntere Häuser –
Manches darunter, das jetzt holdes Erinnern mir weckt.
Freilich haben dazwischen gedrängt sich putzige Villen,
Thürmchen- und erkerbespickt, wie’s die »Moderne« verlangt.
Hier auch die jüngste der Straßen, geführt durch verwüstete Gärten –
Und, o Himmel, dort spreizt, riesig, sich gar ein Palast!
Aber er stört mich nicht mehr; denn schon gewahr‘ ich der Kirche
Taubenumflattertes Dach – sehe ein reinliches Haus:
Schimmernd getüncht, mit zwei Stockwerken, die Reihen der Fenster
Jalousienverhüllt gegen den sengenden Strahl.
Ja, ich kenn‘ es genau. Dort oben in einsamer Stube,
Dürftigem Hausrat gesellt, träumte und sann der Poet;
Sann und blickte dabei auf ein Meer von grünenden Wipfeln
Und auf die Türme der Stadt, die in der Ferne verschwamm.
Selige Qualen des Schaffens und selige Qualen der Liebe,
Bitterste Tage der Not – ach, wie erlebt‘ ich sie hier!
Manches hab‘ ich erreicht, danach ich damals gerungen,
Und ich breche mein Brot nicht mehr in Thränen wie einst
Aber verblüht ist der Lenz, verglüht das Feuer des Sommers –
Und das fahlere Laub raschelt im herbstlichen Hauch.

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