Es herbstelt allmählich im schönen Sievering. Das Grün der schützenden Blätterdächer hat seine besten Monate hinter sich, kündet bereits von der drohenden Leere und Kälte, erinnert einsame Wandersmänner daran, dass Glück grundsätzlich nur von kurzer Dauer ist. Nach Tagen des Regens zeigt sich jedoch wieder die Sonne und verspricht uns einen zauberhaften, feierlichen Döblinger Herbst, bevor Kälte und Winter uns ereilen. Die Nächte sind kühl, klar und voller Sterne.

Und das ist gut.

Episode 12: Ein Kapitel endet, ein neues beginnt Jannis Raptis | Geschichten aus dem Neunzehnten

Dies ist die letzte Episode der "Geschichten aus dem Neunzehnten". Es war ein tolles Jahr! Auf ein weiteres mit neuen Abenteuern!
  1. Episode 12: Ein Kapitel endet, ein neues beginnt
  2. Episode 11: Kaiser in der Kaiserbar
  3. Episode 10: Die Helden der Döblinger Legion
  4. Episode 9: Trautes Heim, Glück allein
  5. Episode 8: Soko Nussdorf

Gemächlich schlendere ich durch die Straßen des nördlichen Wiens, wissend, dass ich hier geborgen und sicher bin. Die Nacht umfängt mich mit kühlender Zärtlichkeit, die Luft ist klar; ich fühle die Präsenz der Sterne mehr, als dass ich sie sehe. Sie begleiten mich auf meinen verschlungenen Pfaden durch Neustift, Sievering und Grinzing, so, wie sie es schon vor fünfzehn Jahren getan haben. Die Silhouetten der Spaziergänger sind friedlich und nicht bedrohlich, manche von ihnen führen kleine Hunde an der Leine.

Ich folge der Sieveringerstraße stadteinwärts und biege in die Daringergasse ab, meinen einstigen Schulweg. Die Straße ist nur spärlich beleuchtet, an manchen Stellen ist es stockfinster. Und dennoch fühle ich mich hier sicherer und magischer als überall sonst.

Ich fühle das Pochen in der Bauchgegend, als die Erinnerungen an meine Schulzeit mich einholen und das Rad der Zeit mich ein weiteres Mal unter sich zermalmt. Ich habe noch immer nicht gelernt, mit der Endlichkeit umzugehen. Ich übe, während ich gehe. Ich übe, wieder und wieder.

Der Tod ist Teil des Lebens, Teil von uns allen. Nichts währt ewig. Alles wird eines Tages in Vergessenheit geraten. Alle Erinnerungen aus deiner Vergangenheit sind nichts als Erinnerungen. Die Vergangenheit ist vergangen. Du kannst nicht alles festhalten, nicht einmal in deinen tausendseitigen Fantasyromanen.

Du kannst das Leben nicht kontrollieren.

Ich versuche es aber zumindest mit meinen Gedanken, denke ich mir und lächle. Wer seine Gedanken kontrolliert, ist doch frei, oder?

Die finstere Straße spuckt mich unmittelbar neben meine einstige Schule aus und ich biege in die Grinzinger Allee und spaziere nach Grinzing. Wie zwei erschöpfte Lindwürmer in der Mittagspause stehen die Straßenbahnen da, dampfend und still, während sie bestiegen oder verlassen werden. Direkt gegenüber der großen Haltestelle – vermutlich der schönsten Haltestelle in ganz Wien – begrüßt mich ein Lokal, das ich noch nicht kannte. Es ist der Gemischte Satz, und genau so einen bestelle ich mir auch, sowie ich eingetreten. Einen Gemischten Satz vom Cobenzl, leicht im Abgang und solide in der Wirkung. Jazzklänge umfangen mich, ich setze mich zum Geschehen und lausche. Obwohl in der österreichischen Gastronomie schon lange nicht geraucht wird, stelle ich mir vor, wie es nach Pfeifentabak riecht und der schwere Rauch aufsteigt. Selbst als Nichtraucher liebe ich diesen Geruch. Und irgendwie gehört er dazu, wenn man sich aus der kalten Nacht in die Wärme der Taverne flüchtet, wo Musik, Speis, Trank und ein lustiges Feuer einen erwarten und beglücken. Sprit für meinen nach Inspiration lechzenden Geist. Batterie für meinen inneren Schriftsteller, der nicht mehr schreibt.

Das ist ja das Gemeine an kreativen Schaffensprozessen und vor allem am Schreiben von Romanen. In der Regel kann man nicht schreiben, wenn man sich nicht gänzlich in die Welt seines Buches zurückgezogen hat. Solange die Dinge zu real laufen, ist das Abdriften in die andere Welt im Grunde unmöglich.

Bevor die Gewissensbisse mich jedoch erreichen können, trinke ich mein Glas aus und bestelle ein weiteres. Der Gemischte Satz hilft, sich selbst ein wenig mehr zu lieben. Ich klopfe mir auf die Schulter, lobe mich selbst für die harte Arbeit, den erbitterten Kampf, den ich täglich ausfechte. Ein Blick auf die Performer bestätigt mir, dass es den meisten von ihnen ähnlich ergeht. Mein wissendes Auge erfasst schnell, dass sie alle studiert haben, und sehr bewandert in ihrem Handwerk sind; jeder einzelne von ihnen kämpft seinen eigenen Kampf.

Es ist schon erstaunlich, denke ich mir. Dass ich erst jetzt, mit einunddreißig Jahren, beginne, essenzielle Fragen zu beantworten. Fragen, die jedoch überlebenswichtig sind, um nicht wahnsinnig zu werden und – falls der Zug schon abgefahren – um zumindest authentisch in seinem Schaffen sein zu können. Fragen, die so tief greifen und jemandes Grundfesten derartig erschüttern, dass man sie am liebsten gar nicht gestellt hätte. Zum Beispiel: Warum mache ich Musik? Was bedeutet Musik für mich? Wer bin ich?

Genug! Ich schüttle den Kopf, um ihn freizubekommen, und versuche, ihn nicht länger zu benutzen. Einfach in die Musik eintauchen, die fermentierte Traube wird schon helfen. Einfach mal kurz abschalten, zum Teufel!

Es gelingt mir beinahe. Aber es ist nicht mehr wie früher. Die Pforten ins Zauberreich öffnen sich höchstens einen Spaltbreit und noch kann ich mich nicht gänzlich hindurchzwängen. Es wird besser, ja. Aber es ist nicht mehr so einfach wie früher. Zu viele Gedanken, zu viel Realität, zu viel Business, zu viele Themen.

Und dennoch … Allein die Tatsache, dass ich halbwegs glücklich bin und täglich durch Fantasy-Welten drifte UND so leben kann, ist hart erarbeitet. Ich weiß, wer ich bin, ja. Im Herzen weiß ich es. Und ganz gleich, wie sehr ich es auch versuche, ich werde niemals völlig real sein. Und vielleicht ist das auch okay so. Für mich – und ich schätze, für die meisten da oben auf der Bühne – stellte sich nie die Frage, ob der Berufszweig der „richtige“ ist. Tu es oder tu es nicht. Und eine Wahl gibt es, wenn man ehrlich zu sich ist, auch nicht.

Ich lausche, applaudiere und trinke. Ich unterhalte mich mit bekannten und unbekannten Gesichtern. Dann bezahle ich und kehre in die nächtliche Stille von Grinzing zurück. Zu Fuß schlage ich den Nachhauseweg ein. Es ist fast wie früher. Damals, als ich vielleicht nicht so glücklich oder ruhig war wie heute, als aber alles irgendwie … jünger und frischer war. Als ich noch nicht so viele Watschen einkassiert hatte, als ich noch nicht so viele Kämpfe hinter mir hatte. Als der Allgemeinzustand einfach ein Produkt der unmittelbaren Realität und des Erkundens war. Alles war ein Abenteuer! Die Songs fremder Bands, die man als Mp3-Dateien auf seinem iPod hörte, die alten Computerspiele, wo das Erstellen eines Charakters noch ein Riesenabenteuer bedeutete, die Fantasyromane, die man im Buch Stöger in der Obkirchergasse mit seinem Taschengeld kaufte und dann in schlaflosen Nächten verschlang.

Jetzt ist alles mehr geworden. Fast zu viel. Die Auflösung ist Ultra-HD, die Auswahl endlos und die Bedienung idiotensicher.

Und dennoch plagt einen der Durst.

Wie eigenartig.

Die Art, wie ich das Wort „eigenartig“ in meinem Kopf betone, bringt mich zum Lachen und bevor ich mir die Frage stellen kann, ob ich Autist oder Psychotiker bin, bleibe ich stehen und mache noch einen kurzen Abstecher in die Kaiserbar. Der Laden ist klein und düster und trotzdem irgendwie elitär. Vereinzelte Hotelgäste des Kaiser Franz Josef sitzen drinnen, hauptsächlich reiche Russen, aber auch der eine oder andere verirrte Neunzehntbezirkler.

Völlig wurscht.

Ein Glas noch, auch wenn ich keinen Alkohol mehr vertrage. Ich brauch das jetzt. Ich will das jetzt!

Alleine in der Kaiserbar, kommt mir der Titel meiner nächsten Episode. Dann schlägt die poetische Übertreibung zu und haut mich beinahe vom Barhocker. Kaiser in der Kaiserbar. Immerhin gibt man als Autor der Wahrheit Spielraum. Vor allem als Fantasyautor. Und umgekehrt, wenn uns jemand etwas erzählt, glauben wir ihm auch alles aufs Wort. Ohne Hintergedanken, ohne Zweifel. Wir glauben ihm einfach.

Das ist unser Job.

Und das ist das Schöne an unserem Leben.

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