Grau und trist bahnt sich der Spätwinter seinen Weg durch Döbling. Sogar hier, im Schoße des Neunzehnten, ist die Jahreszeit schwer zu verkraften. Von mangelndem Vitamin D bis hin zu bitterer Kälte reicht die Palette an Beschwerden. Da sind selbst Döblinger und Döblingerin nicht davor gefeit.

Episode 12: Ein Kapitel endet, ein neues beginnt Jannis Raptis | Geschichten aus dem Neunzehnten

Dies ist die letzte Episode der "Geschichten aus dem Neunzehnten". Es war ein tolles Jahr! Auf ein weiteres mit neuen Abenteuern!
  1. Episode 12: Ein Kapitel endet, ein neues beginnt
  2. Episode 11: Kaiser in der Kaiserbar
  3. Episode 10: Die Helden der Döblinger Legion
  4. Episode 9: Trautes Heim, Glück allein
  5. Episode 8: Soko Nussdorf

Immerhin haben die Kaffeehäuser offen. Innerhalb ihrer schützenden Wände ist es warm und gemütlich, es gibt Heißgetränke und WiFi und zumindest den Hauch des Gefühls, Teil des Stammes zu sein. Im Café meiner Jugend kehre ich heute wieder ein und bestelle eine Wiener Melange. Café Friedl, so, wie die Friedlgasse, an deren erkerbespickten, rankenverhangenen Ecke zur Sieveringerstraße es sich befindet. Dereinst ein Segafredo, wo ich schon als Teenager meine ersten Rotweine trank, nun, wie mir scheint, ein Familienbetrieb, bietet das Café Friedl Unterschlupf für so allerlei Neunzehntbezirkler. Immerhin befinden wir uns genau am Knotenpunkt. Dort, wo die Oberstadt mit der Realität verschmilzt und wo Straßenbahnen, Busse und Schnellbahnen in Richtung Zentrum und sonst wohin anrucken.

Hier war es schon immer belebt. Ob Erste Bank, Bank Austria, Billa, Spar, McDonalds, Oberlaa, Hotel Kaiser Franz Joseph, Maronistand im Winter, Friseursalone, Traffik, Park – es ist für jeden etwas dabei, um seine Zeit zu vertreiben. Immerhin mündet die glorreiche Obkirchergasse, die Einkaufsstraße des Neunzehnten, in die Sieveringer Plaza, während es nordwärts schnurstracks nach Grinzing geht. Es ist ein Schmelztiegel für Kids und Erwachsene gleichermaßen und so fühlt es sich auch an.

Ich lege Schreibblock, Telefon und Kopfhörer auf die Tischplatte, öffne meine Weste und versinke in den bunten Tapeten des Café Friedl. Wirklich eine gelungene Einrichtung, denke ich mir nicht zum ersten Mal. Selten in einem Kaffeehaus gewesen, das so angenehm und nicht penetrant modern eingerichtet war. Das äußerst geschmackvolle Design der Wände, die blauen Samtsessel, die lange Bar mit den Cookies und Brownies, die Vitrinen mit Kuchen und Konsorten und das wirklich herzzerreißend sympathische junge Geschwisterpaar, das den Laden offensichtlich übernommen und neueröffnet hat und nun oftmals auch eigenhändig hier arbeitet.

Ich bin froh, dass es mitunter auch Neuerungen gibt, die durch und durch gut sind.  

Die Wiener Melange wird gebracht und schon steigt mir der tröstende Geruch von Kaffee in die Nase. Ganz gleich, wie grau es draußen sein mag, der Duft von Kaffee am Morgen sorgt für Lebensgeist und -funken. Ich bedanke mich bei der Kellnerin und schaue auf das Muster aus Kakao im Schaum, welches ein Blatt darstellt. Wer dieser Künstler wohl gewesen sein mag?

Ein Lob auf den Barista, denk ich mir und tauche meinen Löffel in das Gebräu, um umzurühren und das Kunstwerk in einem Anflug von Surrealismus verschwimmen zu sehen.

Nach dem ersten Schluck, der mich unvermittelt von den Gestirnen herabholt und erdet, werfe ich einen Blick auf die Klientel, die hier zugegen ist. Wie immer ist der Laden gesteckt voll, das finde ich nach wie vor beachtlich. So divers ist es, dass Netflix und Amazon Prime anerkennend applaudieren würden.

Ich lächle und spähe zum erstaunlich groß gewachsenen Chinesen neben mir, der in maßgeschneidertem Anzug seine Zeitung liest und sich kaum weniger um sein Umfeld scheren könnte. Ja, denk ich mir grimmig, der Kerl weiß, was Geld ist. Ausdruckslos starrt der Mittvierziger auf das Tagesblatt, einzig seine strengen Augen hinter den dicken Brillengläsern wandern hin und her. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er meine Neugierde nicht in Ansätzen bemerkt.

Mann, ist das ein schöner Anzug! Der Stumme blättert die Seite um, dabei weicht der manschettenbehaftete Stoff ein Stück zurück und lässt eine sündhaft teure Armbanduhr zum Vorschein treten. Fast schon beschämt wende ich den Blick ab. Es gibt Grenzen!

Während ich hastig an meinem Kaffee nippe, fällt mir der Herr zu meiner Linken auf, der einsam und seltsam entrückt am Fenster sitzt und mehr fehl am Platz nicht wirken könnte. Dass er zu solch früher Stunde Weißwein trinkt, macht ihn für mich sympathisch. Dass eine Cohiba aus seiner Brusttasche hervorlugt, erinnert mich an die Zeiten, als im Segafredo noch geraucht wurde. Als man die Luft mit einer Machete hätte zerteilen können. Als es Bachata spielte und noch nicht alle vegan und politisch korrekt waren.

Zeiten, die so lange vorbei sind, dass es mir vorkommt, ich hätte sie nur im Traum erlebt. Wobei ich mir oftmals nicht sicher bin, ob es tatsächlich an der Zeitspanne liegt oder einfach nur daran, dass zu viel passiert ist. Sowohl in meinem Leben als auch im Leben aller. Das technologische Schreckgespenst ist schlussendlich kein Gespinst gewesen.

Der Alte trägt einen grauen, etwas schäbigen Anzug, sein Haar ist schütter, die Augenringe verdienen durchaus den Begriff Augengruben, die faltige Haut ähnelt einer vergilbten Landkarte.

Woher stammen all diese Leute, stellt sich mir zum ach wievielten Male die Frage. Und wie können sie es sich leisten, morgens Alkohol zu trinken? Sind sie so reich, dass sie Wunderheiler im Vorzimmer warten haben? Oder ist ihnen einfach alles wurscht?

Ein weiterer älterer Mann geht an mir vorbei, sein Parfum wirkt lähmend auf mich. Dieser Bursche jedoch ist würdevoll, groß und schlank, dunkelhäutig und vermutlich aus dem arabischen Raum, und während er an mir vorbeistolziert, um sich eine Zeitung zu holen, gerate ich für den Bruchteil einer Sekunde in sein Sichtfeld. Ich kenne diesen Blick. Diesen kurzen, siegessicheren Blick des Raubtieres, welches sich zu jeder Zeit seiner Umgebung bewusst ist. In dem teuren Anzug und mit den etwas zu groß wirkenden polierten Schuhen erinnert er ein wenig an einen Schuljungen, der die Kleider seines Vaters zum Schulball geliehen hat. Doch ich weiß es besser; dieser Kerl hat Leute auf dem Gewissen und Millionen auf dem Konto.

Der edelsteinbespickte Ring tritt zum Vorschein, während sein Besitzer die Zeitungen durchstöbert, und beschert mir eine feierliche Gänsehaut. Das sind die Typen, über die ich in meinen Fantasyromanen schreibe. Genau solche Leute sind die Inspiration für all meine Schurken.

Lautes Gelächter im Stimmengewirr macht auf sich aufmerksam und ich drehe mich um zu einer Gruppe von Teenagern, die Kaffee, Tee und Kakao trinken und voller Lebensfreude zu sein scheinen. Ach, ihr schönen, jungen Menschen! Nehmt mich wieder in eure Reihen auf!

Gut gekleidet sind sie, während sie brunchen und ihre Smartphones auf dem Tisch liegen haben wie stumme Begleiter. Sie müssen aus der Gegend sein, da stecken Wohlstand, gute Erziehung und Perspektive dahinter. So ähnlich waren die Kinder und Teenager aus meiner Schulzeit auch.

Nur, dass ich damals schon den Bartwuchs eines alten Griechen hatte.

Dieser Gedanke lässt mich hastig schlucken und in hustendes Lachen übergehen. Ja. Die Selbstpersiflage ist nach wie vor das Highlight an solch grauen Tagen. Wer nicht über sich selbst lachen kann, denk ich mir, der hat ohnehin schon verloren.

Ein Sieveringer Großmütterchen mit Cavalier King Charles Spaniel an der Leine betritt das Café Friedl und für einen kurzen Moment dringt die Kälte des Jänners zu uns. Der Gedanke, dass ich da wieder raus muss, droht für einen Moment, mir die Stimmung zu vermiesen, doch ich kämpfe dagegen an. Ich will mich nicht mehr über jede Kleinigkeit aufregen. Und den Kulturpessimismus möchte ich am liebsten wie einen alten Hut abnehmen, auswringen und irgendwo hinschmeißen.

Das Großmütterchen trägt mehr Schmuck um seine Handgelenke, als es eigentlich tragen kann, und ich frage mich, wieso es noch nicht eingeknickt ist. Mit riesiger Sonnenbrille und frisch geföhntem Haar geht es an mir vorbei, wobei der Schoßhund ihm artig folgt. Beide verschwinden im Nebenraum.

Zwei weitere Hundebesitzer fallen mir auf, die ihrerseits den Weg ins Café fanden und sich den kalten Wintermorgen hier versüßen. Sie sitzen an benachbarten Tischen und unterhalten sich mit der Höflichkeit, die dem Neunzehnten eigen ist, ein älterer Mann, dessen Bibliothek sicher mehr misst als meine ganze Wohnung, und eine jüngere Frau, die man durchaus als anziehend bezeichnen könnte. Es ist schön und romantisch einen Hochintellektuellen und eine schöne Frau aus verschiedenen Generationen aufeinanderprallen zu sehen. So viel schöner als das meiste, das man im Laufe des Tages so sieht. Da steckt irgendwie etwas Reines drin, etwas Erhabenes. Auch die beiden Hunde beäugen sich in einer Mischung aus Neugierde und Zurückhaltung.

Wieder muss ich zu der Gruppe der jungen Leute schauen, die brunchen und sich glücklich unterhalten. Die Jungs wirken ein wenig feminin und voll Quinoa, die Mädchen sind sicherlich an Yoga, veganem Lifestyle und „woke“ Serien interessiert. Alles in allem ist das ja völlig in Ordnung. Wäre es nur nicht so dermaßen grausam propagiert und an den Haaren herbeigezogen.

Nein, wir machen uns heute einen schönen Tag, schelte ich mich, als ich kurz davor bin, mich wieder aufzuregen.

Besser so als anders. Besser Quinoa und zweitausend Gender als Chauvinismus und Hinterwelt. Oder so. Kann es irgendwann eigentlich auch einen Mittelweg geben? Eine vernünftige Dosis von allem, eine freie Entscheidung des Individuums, die nicht irgendwelchen Irrwitzigen in die Hände spielt?

Ich lächle böse und schüttle den Kopf.

Nicht so lange die Kids dem ständigen Strom an Medien, ob nun sozial, asozial oder sonst wie, ausgeliefert sind. Und da ist die Vorgabe einer „modernen Gesellschaft“, die manche Spezialisten abfällig Spätmoderne nennen, nur ein Teil des Schreckens. Das war schon immer so, dass die Medien der Jugend vorgegaukelt haben, wie die Welt zu sein hat. Und meistens geschah das nicht aus einer Motivation des tugendhaften Erziehens heraus.

Das, wiederhole ich in Gedanken, ist nur eines von vielen Problemen dieser Generation.

Irgendwann werden wir, denn da schließe ich mich Dreißigjährigen mit ein, so müde sein von dem Smartphone-Zeitalter, den sozialen Medien, dem ständigen Ranking und bewertet werden und der unablässigen Vergleichbarkeit, dass uns nur zwei Möglichkeiten bleiben werden: Aussteigen oder Durchdrehen.

Ich mein, ich sehe es jetzt schon. Die jüngere Generation, die tatsächlich mit dem Zeug aufwächst, trägt und erträgt das Smartphone wie ein Haustier, um das sich halt gekümmert werden muss. Aber – zumindest kommt es mir so vor – fehlt größtenteils der Wahn, der vor zehn Jahren beim Selfies Posten dabei war. Ich glaube und hoffe, dass die Jugend von heute viel intelligenter ist, als wir glauben mögen, und dass das Verlangen nach Wahrhaftigkeit und Erdung größer ist als die narzisstischen Binsenweisheiten von „Instagram-Stars“ und selbsternannten Influencern. Ich glaube, dass die Halbwahrheiten selbstfinanzierter Online-Channels wieder Medien mit einer gewissen Autorität und vor allem realen Kompetenzen weichen werden; oder, dass die Kids zumindest ein irrsinniges Gespür dafür entwickeln werden, welchen Quellen sie vertrauen werden und welchen nicht.

Darin liegen meine Hoffnungen.

Ich als Musiker zum Beispiel habe Klassik gelernt, Jazz-Gitarre studiert, mich mit diversen Folksmusiken beschäftigt, etliche Platten ein- und zahllose Bühnen bespielt und übe und entwickle mich nach zwanzig Jahren immer noch täglich weiter. Wenn ich mir so ansehe, was für Kasperln auf YouTube Gitarrenunterricht geben, denk ich mir, ich hab einen an der Waffel. Aber die Kids werden das schon checken, davon bin ich überzeugt.

Die Wahrheit kommt immer ans Tageslicht. Und ich habe Respekt vor den jungen Leuten von heute. Es ist nicht einfach, innerhalb einer geöffneten Pandorabüchse aufzuwachsen. Und da schlagen sie sich hervorragend! Der Mensch ist immerhin das adaptivste Wesen, von dem ich jemals gehört habe. Wir werden Wege finden, uns aus dieser prekären Situation herauszulavieren. Freilich, so wie früher wird es nicht werden. Aber ich denke, dass wir aus dem Höllental schon rauskommen werden.

Mit einem Lächeln wende ich den Blick von der Gruppe Brunchender ab und öffne meinen Notizblock. Ein paar Sekunden später fällt mir auf, dass ich kein Schreibutensil dabeihabe. Ich fluche innerlich auf Griechisch. Da lässt es sich nämlich richtig schön böse fluchen. Dann grinse ich wie ein Vollidiot, klappe den Schreibblock zu und entsperre mein Smartphone, um meine Gedanken in OneNote einzutragen.

Es ist eh gescheiter, alles in der Cloud zu haben, denk ich mir und fange an, zu tippen.

Also dann.

Episode Vier. Gedanken und Beobachtungen im Café Friedl.

Erstens …

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