Das interessanteste an der Wiener Hassliebe ist ja, dass einem diese Stadt, schlummernd in ihrem ach so brodelnden Becken, in den ungewöhnlichsten Situationen zu fehlen scheint. Befinde ich mich beruflich für einen Tag in Linz, Graz oder gar Tirol, ertappe ich mich dabei, wie sehr mir Wien gefehlt hat, sobald ich die Stadtgrenze wieder betrete. Fahre ich auf Reisen, beispielsweise jeden Monat für ein paar Tage nach Griechenland, vermisse ich bereits Stille und Wohlgerüche des Neunzehnten. Und sitze ich, wie in just diesem Augenblick, am Strand in Chalkidike, vor türkisfarbenem Wasser, getragen vom Chor der Zikaden, sehnt sich ein kleiner Teil von mir bereits nach der Ausgewogenheit mitteleuropäischen Klimas und der Frische Döblinger Hochglanzpolitur. Es ist eigenartig, nein verwirrend. Mir scheint, der Fluch meiner Kindheit und Jugend wird mich bis an mein Lebensende verfolgen.

Episode 12: Ein Kapitel endet, ein neues beginnt – Jannis Raptis | Geschichten aus dem Neunzehnten
Unterwegs sein! Ja nicht zu lange in einer Bar verweilen, gibt es doch zehn weitere, deren Trunk und Klientel wir kennenlernen müssen! Zumindest war das das Motto, als ich noch Trunk und Klientel frönte. Nun wäre es wohl eher: Irgendwie sitzt es sich unwohl, wenn zu lang gesessen wird, aber ohne Sitzmöglichkeit macht das Leben auch keinen Spaß. Zu alt zum Leben und zu jung zum Sterben. Gefangen in der Zwickmühle zwischen Generation Y und Z. Gestrandet im Endprodukt der Vergangenheit und ihre Auswirkungen.
Und dennoch. Erwächst nicht alle Hoffnung dem Umstand, dass wir unsere eigene Realität zu kreieren in der Lage sind? Ist es nicht das, was das Leben erst lebenswert macht?
Es tut gut, sich dieser Freiheit bewusst zu sein. Zumindest meistens. Aber wer kein Angestellter sein kann, der hat Kapitän zu sein. Und Poseidon weiß, welche Hürden das wiederum mit sich bringt!
Die Wellen plätschern sanft vor sich hin; ungestört und ohne auf meinen rauschenden Gedankenfluss zu reagieren. Wieder und wieder. Ununterbrochen. Und wenngleich sie brechen und unwiderruflich dahin sind, um wiederum neuen Wellen Platz zu schaffen, die genauso kurzlebig für einen Moment im Rampenlicht stehen, bange ich keine Sekunde lang um die Existenz des Meeres. Ist es nicht erstaunlich? Die Wellen kommen und gehen, doch der Ozean bleibt, überdauert die Zeit, überdauert sich selbst. Die Wellen kehren zurück, woher sie stammen und nichts daran ist vergeblich oder verschwendet. Es ist ein einziges großes Fest!
Verzerrt dringen die Bässe der Beach Bar nebenan an mein in Salz getränktes Ohr. Die Gerüche von Meer und Kiefernwald steigen mir in die Nase, als Äolus mir entgegenweht, tragen mich weit fort. Hier verbirgt sie sich zumeist … Jene, die mir Melodien schenkt. Jene, welche die alten Griechen einst eine Muse genannt hätten. Ich weiß nicht, wie ich diesen zweifellos existierenden Geist nennen soll, doch feststeht, er durchdringt mich ausnahmslos jeden Sommer, wenn ich in den Gewässern meiner Ahnen plansche.
Fast alles, was bislang meiner Feder entsprungen ist, ob in Form von Ton oder Wort, ob gut oder schlecht, entstand hier, am Meer und in den zahlreichen Stränden der Ägäis. Und doch meine ich, als mittlerweile Einunddreißigjähriger, herausgefunden zu haben, dass da noch einige Mechanismen mehr am Werk sind. Wirken die zwei, drei Sommermonate, die ich in der sogenannten Heimat verbringe, wie ein endloser Quell der Inspiration, so fühlt sich der nahende September an, wie eine kühlende Plane, die mich erwartet. Die Rückkehr in den Neunzehnten ist stets mit Feierlichkeit verbunden. Mit dem Gefühl Federpenal und Schulranzen zu besorgen – um sowohl die österreichische als auch die deutsche Leserschaft zu erreichen – mit dem Gefühl, sich irgendwo zu inskribieren, irgendwo neu zu beginnen, und mit einer Herrgottsfrische und nicht gekanntem Elan durch Wien zu flanieren und selbiges zu erobern. Ein Zustand, der meist nur ein paar Wochen anhält, dessen Mysterium sich mir bislang jedoch nicht erschlossen hat.
Gäbe es diese Rückkehr nicht, so denke ich, wären auch die heißen Sommermonate nicht derartig inspiriert. Und umgekehrt? Umgekehrt ist das Leben in Wien für jemanden wie mich unvorstellbar, wenn es nicht die versprochenen Monate irgendwo am Meer gibt, oder zumindest in einer anderen Welt wie Amerika, Asien oder sonst wo.
Es ist ein wirklich eigentümliches Leben, das von mir gelebt werden will. Aber was soll man tun? Man folgt dem Ruf. Immerhin geht es ja nur ums Glücklichsein.
Geboren in Germanien, aufgewachsen in Flandern und älter geworden im ach so besungenen Wien, dabei stets an dorische Säulen gebunden. Im Herzen Reisender, auf der Suche nach Abenteuer und neuen Horizonten, und doch mit dem tiefen Verlangen nach Sesshaftigkeit, einem großen Haus, Frau, Kind und Hund. Irgendwo zwischen den Stränden von Chalkidike und den Zauberwäldern des Neunzehnten. Und jeden Tag wacht man auf der anderen Seite des Kissens auf und jeder Tag hat seine eigene Bestimmung.
Es ist nicht leicht, Kapitän sein zu wollen.
Ein Auto fährt an der Promenade entlang und aus dem Inneren erklingen die nervtötend debilen Sommerhits für Vollidioten. Liebend gern würde ich die Polizei rufen und die Störenfriede verhaften lassen, aber ich fürchte, ich habe keine juridische Grundlage außer der Wut, dass dumme Leute immer so laut sein müssen. Ich atme tief durch, versuche mich an einem zufriedenen Lächeln, denke mir “Zen!” und blicke wieder auf das Meer hinaus.
So viele Aspekte von Blau auf einem einzigen Blick. Unwirklich.
Heimat, wiederhole ich müde in Gedanken. Rückkehr.
Zwei zentrale Begriffe in meinem ersten Roman. Und, wie ich mir eingestehen muss, ebenso zentral in den drauffolgenden, noch nicht erschienenen. Nicht viel anders verhält es sich mit den aktuellen Songtexten. Es ist und bleibt ein Kampf gegen Windmühlen.
Heimat – überall, wo es magisch ist.
Rückkehr – jedes Mal, wenn die Abenteuer zu viel wurden.
Wie, bei Poseidon und seinen überstrapazierten Seepferdchen, soll das unter einen Hut gebracht werden? Es ist ein Leben, das zwangsläufig zu Frust und Problemen führt. Man muss aus verdammt hartem Holz geschnitzt sein, um solch ein Leben ohne Entschuldigungen führen zu können.
Und ich fürchte um die Härte meines Holzes.
Ein Motorboot durchbricht die Horizontale, lärmend und unnötige Wellen erschaffend, die nach und nach bis an den Strand gelangen und vor mir brechen. Für einige Momente geraten die Badefreudigen in unruhige Bewegung. Kinder in ihren aufblasbaren Einhörnern, Eltern mit ihren Bierbäuchen und Jugendliche mit ihren nervig lauten Sprüchen, die wie geistlose Pfeile durch die Gegend schießen.
Eigentlich hasse ich es ja hier, aber Privatstrände sind selten und teuer geworden dieser Tage.
Ich führe meinen Plastikbecher an die salzigen Lippen und nehme einen eiskalten Schluck Wassers zu mir. Der Wind nimmt zu und verursacht mir Ohrenschmerzen. Der Sand wird mit dem Höhersteigen der Sonne immer heißer. Allmählich bekomme ich Hunger.
So schnell kann’s gehen, denke ich mir. Das bin ich. Sprunghaft, impulsiv und nicht in Ansätzen so weise, wie ich es sein müsste, um ein Leben, wie ich es eigentlich will, führen zu können. Woher beziehen all diese bespielhaften Leute, denen ich auf Instagram und TikTok folge, wohl ihre Kräfte? Wo ist deren wahre Heimat?
Ich kenne die Antwort.
Die Heimat ist auf der anderen Seite. Oder: Was uns hier an Heimat fehlt, erschaffen wir dort, wo wir Götter sind. Ist ein neues Lied keine Rückkehr? Ein neues erschaffenes Etwas keine Heimat? Dort, wo wir wir sein können. Dort sind wir unschlagbar und dort sind wir Zuhause. Und sobald die Validation von außen kommt, ist es, als hätten wir plötzlich die Erlaubnis, auch in der Welt der anderen als jene Urgewalten oder Kobolde zu existieren, die in uns schlummern. Mit dem messbaren Erfolg kommt die Akzeptanz, kommt die Freiheit als Kunstschaffender innerhalb der Gesellschaft zu leben.
Bis dahin ist es ein Leidensweg. Ein einsamer.
Und die wenigsten verstehen ihn.
Mit einem Lächeln stehe ich auf und trete langsam vor, wie ein Poseidonpriester, bereit, die Seepferdchen zu channeln. Ich begebe mich ins Wasser, wate eine Weile dahin, tauche schließlich ab und kämpfe mich durch das Türkis, um die furchtbaren Touristen hinter mir zu lassen und irgendwohin zu gelangen, wo es nur mich und das blaue, blaue Meer gibt.
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